Mädchen für alles mit Leitungsfunktion

Gespräch mit dem Bielefelder Oberspielleiter Christian Schlüter

Die Bielefelder "Führungsriege" bei der Spielplan-Pressekonferenz 2013/2014

 

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G. Wasa (WS): Herr Schlüter, seit 2006 sind Sie Oberspielleiter hier am Theater Bielefeld. - Was macht eigentlich ein Oberspielleiter?


Christian Schlüter (Sch): Nun, die nach außen hin offensichtlichste Aufgabe eines Oberspielleiters ist die des Regisseurs: Neben Michael Heicks, unserem Intendanten, bin ich einer der festen Hausregisseure und verantworte in jeder Spielzeit mehrere Inszenierungen.  

 

WS: So wie jetzt „Winterjournal“ nach dem Roman von Paul Auster.


Sch: Ja, aber natürlich hat der Oberspielleiter darüber hinaus auch eine Leitungsfunktion; das heißt er trägt die Verantwortung für die gesamte Schauspielsparte – so wie die Operndirektorin fürs Musiktheater und der Chefchoreograph für den Tanz. In dieser Funktion bin ich also für die Ausrichtung des Hauses mit verantwortlich.

 

WS:  Das heißt also für das Gesamtprogramm einer Spielzeit?

 

Sch: Ja, genau, für die programmatische Ausrichtung. Aber daneben auch für die spielerische Ausrichtung, für die Ensemblegestaltung und -entwicklung. Da geht es um die einzelnen Schauspielerinnen und Schauspieler: die sollen eine Rückmeldung bekommen: Wie entwickeln sie sich schauspielerisch? Wie passen sie in unsere große Linie? Warum besetzen wir so? Es soll für die Einzelnen transparent sein, was die Leitung macht. Und dann ist natürlich ganz wichtig, dass alle Einzelnen zusammen zum Ensemble werden. Das fängt damit an, dass die Spieler miteinander spielen – was gar nicht so selbstverständlich ist, wie sich das vielleicht anhört. Und da versucht man gerade als Oberspielleiter zu gestalten, mitzuhelfen, so dass sich ein Ensemble-Charakter entwickelt, dass so etwas wie eine „Bielefelder Linie“ entsteht.

 

Ja, und nicht zuletzt ist man „Mädchen für alles“, ist also immer zuständig, wenn es Probleme gibt, wo Hilfebedarf besteht.

 

WS:  Bleiben wir noch mal bei der programmatischen Ausrichtung. Wie muss man sich das vorstellen?

 

Sch: Auch da versuchen wir, so etwas wie eine „Bielefelder Linie“ zu entwickeln. Dafür brauche ist zunächst mal einen Gesamtüberblick: Was ist los an unserem Haus? Man besucht beispielsweise Proben, einfach um zu schauen, was die Kollegen von der Regie machen. Da gibt man auch schon mal Hilfestellung – wo es erwünscht ist, wo es Sinn macht und vor allem: wo man’s kann.

 

Und natürlich ist die programmatische  Ausrichtung nicht Sache einer Spielzeit, vielmehr etwas, das sich über die Jahre hinweg entwickelt und unserem Theater dann seinen besonderen Charakter verleiht.  

 

WS:  Ganz konkret gefragt und um ganz am Anfang zu beginnen: Sie wirken also zunächst einmal an der Aufstellung des nächsten Spielplanes mit.

 

Sch: Genau. Unsere drei Dramaturginnen, Michael Heicks und ich bilden zusammen die Schauspieldirektion und wir fünf entwickeln gemeinsam den neuen Spielplan. Und das „gemeinsam entwickeln“ ist tatsächlich wörtlich gemeint. Es gibt keine Vorgaben, die etwa der Intendant oder ich machen, sondern unser Programm entwickelt sich ganz stark im Verlauf eines ausgewogenen Diskussionsprozesses, der im Herbst beginnt und bis Februar dauert, bis wir dann die ca. 15 – 16 Stücke festgelegt haben. Und die müssen natürlich in einem gewissen Verhältnis zueinander stehen, denn so ein Spielplan hat ja auch einen gwissen Rhythmus: wann terminiere ich ein komisches Stück, wann ein tragisches, wann leiste ich mir ein Experiment ... Und irgendwann fängt dann so ein Spielplan an „zu atmen“, Das heißt, die Stücke werden nicht einfach hintereinandergereiht, sondern die korrespondieren auch in der Abfolge miteinander. Insofern ist so ein Spielplan - wenn man so will - insgesamt auch eine Inszenierung,

 

WS:  Sie inszenieren ja auch außerhalb Bielefelds. Hat das dann wiederum Rückwirkungen auf die Arbeit hier?

 

Sch: Ja natürlich. Im ganz konkreten Fall hab‘ ich beispielsweise die Räuber in Koblenz inszeniert und unmittelbar danach hier in Bielefeld „Kabale und Liebe“ – das war für mich sozusagen mein „Schiller-Herbst“. Ich empfand dieses Zusammentreffen als Vorteil: man beschäftigt sich mit den Stücken; achtet auf Gemeinsamkeiten und – vielleicht noch mehr – auf Unterschiede. In diesem Fall war das Ergebnis, dass ich für die beiden Stücke unterschiedliche Ästhetiken gesucht habe und diese dann doch im gleichen Bühnenbild gemacht habe.

 

Im Übrigen ist es natürlich schön, mal rauszukommen, mal mit ganz anderen Leuten zu arbeiten. Natürlich bringt man dann eine Menge Inspiration mit zurück. Das hilft, Betriebsblindheit zu vermeiden. Und, wenn man eine Zeitlang anderswo gearbeitet hat, dann weiß man viele Dinge plötzlich wieder ganz neu zu schätzen, die man sonst für allzu selbstverständlich nimmt.

 

WS:  Den Austausch haben Sie ja insofern auch institutionalisiert, als Sie viele Inszenierungen von Gastregisseuren machen lassen. Wie werden die eigentlich ausgesucht?

 

Sch: Teilweise sind das Empfehlungen von allen möglichen Personen, deren Urteil ich schätzen gelernt habe. Dann schauen wir uns die Arbeit der Leute an; dann laden wir sie ein, sprechen mit ihnen, und wenn wir das Gefühl haben, dass die Chemie stimmt – das müssen wir ja auch gegenüber unseren Schauspielern vertreten -, dann kommt es zur Zusammenarbeit.

 

Natürlich besucht man auch andere Häuser, schaut sich junge Regisseure an; da haben wir schon ganz interessante Entdeckungen gemacht.

 

Insgesamt ist das ein recht aufwendiger Prozess; denn schließlich sieht man nicht dauernd Inszenierungen, bei denen man denkt, ja das passt. Es reicht nicht, einen guten Regisseur zu entdecken, er muss auch zu uns passen. Das heißt nicht, dass seine Handschrift unserem Stil entsprechen muss; es geht vielmehr um Fragen wie: Ist das ein Akzent, der uns noch fehlt? Ist das eine neue Herausforderung für unsere Schauspieler? Es ist ja gerade wichtig, dass die Gastregisseure anders arbeiten als etwa Michael Heicks oder ich – sonst würde das schnell langweilig. Da kann es sehr  fruchtbar sein, wenn mal jemand – im positiven Sinne – querschießt.

 

WS:  Aber die Besetzung entscheiden Sie hier – oder haben da auch Gastregisseure gewisse Mitspracherechte?

 

Sch: Ja, ein gewisses Mitspracherecht gibt es schon. Natürlich hat jeder so seine Wünsche. Aber ebenso natürlich müssen wir darauf achten, dass die Schauspieler ausgewogen besetzt werden. Jeder Schauspieler sollte in jeder Spielzeit doch wenigstens eine Produktion haben, auf die er sich freuen kann. Das muss nicht unbedingt eine Titelrolle sein. So machen wir für unsere Darsteller eine Art Gesamtkonzept für die Spielzeit, und darüber informieren wir dann eben auch den Gastregisseur. In aller Regel findet man dann eine gemeinsame Linie. Mir geht das ja auch so, wenn ich woanders inszeniere. Da erfahre ich, welche Überlegungen dahinter stehen, einen bestimmten Darsteller in einer bestimmten Position einzusetzen; und normalerweise macht man das dann auch so mit. Da kann man dann durchaus positive Überraschungen erleben, wenn ein Darsteller, gegen den man Vorbehalte hatte, sich im Verlauf der Arbeit plötzlich als der genau Richtige erweist.

 

WS:  Hat eigentlich auch mal ein Schauspieler, eine Schauspielerin die Chance zu kommen und zu sagen: „Ich wollte schon immer mal die Claire Zachanassian spielen – könnten wir nicht mal Dürrenmatts „alte Dame“ auf den Spielplan nehmen?“?

 

Sch: Ja – zum Beispiel im Fall der „Sturmhöhe“ war es weniger die Vorlage, der Brontë-Roman, sondern der Vorschlag von Schauspielern: Warum nicht mal so einen viktorianischen Frauenroman. Anna Karenina hatten wir schon  Und dann lag plötzlich dieser Roman auf dem Tisch, und wir haben gesagt, das ist eine spannende, eine widersprüchliche Geschichte.

 

Ich sage sogar öfters: „Wünscht euch was“  Natürlich gibt es keine Garantie, dass die Wünsche auch erfüllt werden, Aber ohne diese Frage ahnt man häufig gar nicht, worauf Schauspieler Lust haben. Übrigens kommen aus dem Ensemble auch Wünsche hinsichtlich von Regisseuren – da werden uns von den Darstellern Leute vorgeschlagen, an die hätten wir nie gedacht. Und nicht selten kommt dann dabei eine richtig gute Inszenierung raus.

 

 

WS:  Herr Schlüter, wir haben einen Standard-Fragebogen, mit dessen Hilfe wir unsere Gesprächspartner als „Mensch wie du und ich“ vorstellen möchten – in ihrer Entwicklung, mit ihren (kulturellen) Interessen; und zunächst einmal mit ein paar ganz persönlichen Vorlieben. – Wie sieht das bei Ihnen aus:

 

WS:  Bier oder Wein?                                            Sch:  Wein

WS:  Kaffee oder Tee?                                          Sch:  Tee

WS:  Sonntagabend: Tatort oder Pilcher?            Sch:  Tatort

WS:  Regionale oder internationale Küche?         Sch:  international

WS:  Porsche oder Fahrrad?                                Sch:  Fahrrad

WS:  Großstadt oder Land?

Sch:  Nach 20 Jahren Hamburg bin ich gern nach Bielefeld gekommen

 

 

WS:  Sie sind in Nesselwang, im Allgäu, geboren. Dort sind Sie aber noch nicht in Kontakt mit dem Theater gekommen.

 

Sch:  Nein, das war in Köln, Anfang der 80er Jahre: als Schüler habe ich den „Faust“ in der Inszenierung von Jürgen Flimm gesehen.

 

WS:  Was nicht Ihre letzte Begegnung war – mit dem Theater sowieso nicht, aber auch Jürgen Flimm sollte in Ihrem Leben noch eine größere Rolle spielen: Sie haben bei ihm und bei Manfred Brauneck Schauspieltheater-Regie studiert.

 

Sch:  Ja, das war von 1990 bis 94 in Hamburg, nachdem ich vorher in Bochum schon zwei Jahre Theaterwissenschaft studiert hatte.

 

WS:  Die 90er Jahre – das war die Zeit, in der Flimm als Intendant das Hamburger Thalia-Theater zu einer der führenden deutschen Bühnen gemacht hat. Und genau dort haben Sie dann Ihre erste Sporen als Regieassistent verdient – kann man sich einen besseren Karriere-Einstieg wünschen?

 

Sch (lacht): Eigentlich nicht.

 

WS:  Wie gings dann weiter?

 

Sch:  Ich wurde Lehrbeauftragter am Studiengang Schauspieltheater-Regie in Hamburg und habe parallel dazu als freier Regisseur gearbeitet: am Schauspielhaus Bochum, in Dresden, in Oberhausen, in Tübingen, Leipzig und natürlich an meiner „Hausbühne“, dem Thalia.

 

WS:  Was sehen Sie als Ihren größter Erfolg?

 

Sch:  Den Oberhausener Theaterpreis für „Was ihr wollt“ (2007)

 

WS:  Gibts auch eine größte Niederlage?

 

Sch:  Vielleicht, dass ich den „Leopard“ überhaupt gemacht habe.

 

WS:  Nun ja, „kultur-extra“ hat damals geschrieben: „Alles in allem ein Stück, dem es gelang, die tragende Schwere und melancholische Leichtigkeit dieser Niedergangsgeschichte spürbar zu machen, ohne sich selbst darnieder zu legen unter der Schwere der Fürsten von Salina.“ – das hört sich doch gar nicht schlecht an!

 

WS:  Was war bisher Ihre liebste Regiearbeit?

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Sch:  Ich inszeniere immer wieder sehr gern Schiller – z. B. Maria Stuart oder Kabale und Liebe

 

WS:  Demnächst hat Ihre Inszenierung von „Winterjournal“ Premiere. Und dann? Die nächste aktuelle Herausforderung?

 

Sch:  Das ist eine unendliche Geschichte: Immer wieder neue Aufgaben bringen immer wieder neue Herausforderungen mit sich. Als stets aktuelle Herausforderung sehe ich, in der künstlerischen Arbeit Grenzen zu spüren

 

WS:  Haben Sie einen Lieblingsfilm?    

Sch:  Starwars, Teil 1

 

...

 

WS:  Ihr liebstes Gedicht?                        

Sch:  Hölderlins „Hälfte des Lebens

 

 

WS:  Ihre Lieblingsmusik?                                   

Sch:  Pop

 

WS:  Ein bildender Künstler?      

Sch:  Gregor Schneider mit seiner Installationskunst

 

 

WS:  Ihr liebster Theater-Autor?                 

Sch:  Schiller

 

WS:  Ihr liebstes Stück?:                           

Sch:   „Andromache“

 

WS:  Die sympathischste Frauenrolle?

Sch:  Die Creszenz in „Früchte des Nichts“ von Ferdinand Bruckner

 

WS:  Und die fieseste Männerrolle?

Sch:  Oskar in Horváths „Wienerwald“

 

WS:  Nach all Ihren Regiearbeiten – gibt’s noch eine „Traum“-Inszenierung?

Sch:  Sogar eine ganze Menge: den „Lear“, die „Heilige Johanna der Schlachthöfe“, um nur zwei zu nennen.

 

WS:  Mit welcher/m Schauspieler/in / Regisseur/in würden Sie gerne mal zusammenarbeiten?

Sch:  Josef Bierbichler, Samuel Finzi,  Wolfram Koch,  Lina Beckmann, ...

 

WS:  Ihr schönstes Kultur-Erlebnis der letzten 12 Monate:  

Sch:  „American Hustle“; „Moby Dick“ in der Regie von Antú Romero Nunes am Hamburger Thalia-Theater

           

WS:  Und das größtes Kultur-Ärgernis der letzten 12 Monate:

Sch:  Ach, ich ärger mich nicht so oft.

 

WS:  Eigentlich die schönste Anwort, die ich bisher auf die Frage bekommen habe. – Ganz zum Schluss: Gibt‘s neben dem Theater auch noch Hobbies?  

 

Sch:  Kochen, Wandern.